Auszug aus „Der Feuerwehrmann“

Wir waren nicht die ersten. Zwei uniformierte Polizisten, genauer eine Polizistin und ein Polizist erwarteten uns bereits. Außerdem standen trotz der nachtschlafenden Zeit schon viele Neugierige auf der Straße.
„Irgend etwas bekannt?“ fragte Dieter die beiden.
„Scheint der Keller von 87 zu sein. Stinkt mächtig im Treppenhaus, aber man kann noch herein.“
„Okay, danke. Dann wollen wir uns die Sache mal ansehen.“ Mit diesen Worten begab er sich mit seinem Drehleiterführer zum Eingang von Haus Nummer 87, einem Eingang von mehreren in einem langgestreckten achtgeschossigen Wohnblock. Vorher rief er uns noch zu:
„Legt mal ein C-Rohr zum Eingang! Angriffstrupp in Bereitstellung!“ Nun startete die, sich an jeder Einsatzstelle wiederholende Routine, die jedoch immer wieder neu, spannend und elementar wichtig ist für den gesamten weiteren Verlauf des Einsatzes. Der Chef erkundet die Lage, sammelt Informationen und bildet sich eine Meinung über das Schadensereignis. Mit diesen Informationen entwickelt er eine Strategie, wie die Sache am besten zu bewältigen ist. Er versucht, die Gefahrenschwerpunkte zu erkennen und erteilt seinen Männern entsprechende Befehle. Diese schwerwiegenden Momente der Entscheidungsfindung lassen meist keinen Spielraum für zeitraubende genaueste Untersuchungen, geschweige denn für langwierige Diskussionen des Für und Wider. Oft wird über das Leben von Menschen in solch wenigen Sekunden entschieden. Und oft steht und fällt die Existenz einer Familie oder einer ganzen Firma mit der Richtigkeit dieser Entschlüsse. Meist sind wir erfolgreich im Kampf gegen die Flammen, in der Abwendung der Gefahr – und doch muss manchmal Tribut gezahlt werden. Und jedes Mal ist einmal zuviel! Wir geben unser Bestes, wenn es dann aber einmal nicht gelingt, wenn ein Menschenleben zu beklagen ist, wer vermag dem Einsatzleiter die nagenden Zweifel an seinen Entscheidungen zu nehmen? Wer weiß von den schlaflosen Nächten mit der immer wiederkehrenden quälenden Frage: Hab ich alles richtig gemacht? Was wäre, wenn ich statt dessen…? Hätte ich doch sofort…?
Und da gibt es die Gutachter, die Untersuchungsausschüsse, Fachleute und solche, die es zu sein glauben, inklusive alle Besserwisser, die ohne Stress und Zeitdruck im Nachhinein seine Entscheidungen „schlau“ zerpflücken. Nein – die Verantwortung konnte ihm keiner abnehmen, und so eilte Dieter Seiter los, machte seinen Job – und er machte ihn gut. Er wusste aber auch, dass er sich auf seine Truppe verlassen konnte. Jeder Handgriff saß. Rote Schläuche rollten über den breiten Gehweg bis zum Eingang, andere zu einem eilig aufgestellten Hydranten, der auf einer Wasserrohrleitung von 150mm Durchmesser saß. Genug, um der im Heck eingebauten Pumpe entsprechend Löschwasser zuzuführen. Keine zwei Minuten hatte es gedauert, bis das Herzstück unseres Löschfahrzeuges Wasser mit 6 Bar Druck zu einer Verteilerstelle vor dem Hauseingang presste. Von hier konnten drei Schlauchleitungen abgehen; eine davon kuppelten wir gerade an. Sie sollte uns bei unserem „Eintauchen“ in die rabenschwarze, rußige Finsternis dieses unbekannten, riesigen Kellers, das nötige Wasser liefern.
Ein Blick noch auf das Druckmanometer: 295 bar – Okay, der Luftvorrat musste für die nächsten 20 Minuten reichen. Zwar soll der Vorrat ca. 30 Minuten reichen, aber die Minuten schrumpfen unter der hohen körperlichen Belastung und dem dadurch vermehrten Sauerstoffverbrauch drastisch zusammen.
Jochen und ich standen uns Maske an Maske gegenüber. Jeder schraubte dem anderen seinen Atemanschluss fest, dann schalteten wir die Handscheinwerfer ein und verschwanden vor den Augen unserer Kollegen in dem undurchdringlichen schwarzen Kellereingang. Nur der nachgeschleppte, rote Feuerwehrschlauch verriet, dass hier gerade jemand die Treppe hinabgestiegen war. Schon nach den ersten drei Stufen waren wir so vom schwarzen Brandrauch umhüllt, dass unsere Scheinwerferkegel kaum einen halben Meter in die Finsternis drangen. Es war, als hätte ein urzeitlicher Riesenkrake zwei Taucher in seine finstere Tinte eingehüllt. Jetzt half nur noch der Tastsinn. Es war ein mühsames Vorankommen. Ich suchte mit der Rechten den steten Kontakt zur Kellerwand. Jochens Hand lastete auf meiner Schulter – ein lebensnotwendiger Kontakt.
Wehe dem Trupp, der sich hier verirrte, noch schlimmer, wenn man auch den einzigen Kontakt zur Außenwelt verlor – den mitgeführten Wasserschlauch. An diesem würden wir irgendwann zurück kriechen, zurück nach draußen – zurück ins Leben. Ohne ihn wären wir in dieser Finsternis gefangen und hilfloser als ein Sehender im verzwicktesten Labyrinth. Hier gab es keine Wegweiser, niemand sagte: „Zum Feuer nach 10 m links abbiegen und weiter durch die dritte Tür nach rechts.“ Nein, Du bist blind! Deine Augen sind die Hände, die in dicken Lederhandschuhen stecken und diese „Augen“ greifen immer nur 20 cm weit.
Meine griffen in diesem Moment in die Speichen eines Damenfahrrades. Es schepperte gewaltig als der Drahtesel unmittelbar vor mir umkippte. Ich richtete es wieder auf. Keine Querstange, daher Damenrad. So etwas durfte man nicht einfach liegen lassen, ein zu gefährliches Hindernis für uns und jeden, der hinter uns kommen würde. Unvermittelt knallte ich mit dem Kopf gegen irgend etwas Hartes. Ich tastete nach oben. Quer vor mir war ein Mauerabsatz oder ähnliches. Etwas tiefer griffen meine Hände ins Leere. Ich bückte mich, tastete vorwärts. Scheiße! Mülltonnen!
„Zurück Jochen, ich glaube wir hängen unter der Treppe fest.“ Kostbare Zeit verstrich. Wir hatten noch nichts erreicht, außer in den zehn Metern den Kellerabstellplatz für Fahrräder und Mülltonnen zu entdecken.
Jetzt ging ich hinter Jochen. Der mit Wasser gefüllte pralle Schlauch folgt nur widerwillig unserer gezwungenen Kehrtwende. Da – wieder das gleiche Scheppern wie vorhin. War ja auch dasselbe Fahrrad. Diesmal war unser Schlauch der Übeltäter. Ich hörte Jochen schmerzhaft unter seiner Atemschutzmaske aufstöhnen. Das Fahrrad hatte ihn wohl höchst unsanft getroffen. Armes Schwein, dachte ich, ist nicht dein Tag heute.
„Angriffstrupp für Zugführer – kommen! Angriffstrupp für Zugführer – kommen!“ Das galt uns. Ich presste die Rechte auf den Knopf, der außen an einer Brusttasche angeklemmt war.
„Ich höre – kommen!“
„Wie sieht es aus da unten? Habt Ihr schon Kontakt? – Kommen!“
„Negativ, bis jetzt keine Feststellung, wir suchen noch!“
„Versucht mal den ersten Gang nach rechts! Dann ungefähr bis zu… brzzz… rrrrr… ommen!“
„Dieter! Ich kann nicht alles empfangen! Wiederhole! – Kommen!“ Ah, da ist er wieder.
„Den Gang rechts bis zur fünften Tür! – Kommen!“ Gut, das war deutlich. Wahrscheinlich hatten die draußen ein Kellerfenster geöffnet und sogar das Feuer entdeckt. Wie war das doch mit den Wegweisern?
Ich schätze, wir waren jetzt weitere 10 m in dem Gang vorgedrungen, als sich rechts die erste Abzweigung auftat. Das musste der bewusste Weg sein. Sehen konnten wir ihn nicht, aber die Kellerwand bildete hier einen scharfen 90° Knick, in dessen vorgegebene Richtung wir jetzt gingen. Der Schlauch machte Probleme. Irgendwo saß er fest. So sehr wir uns auch bemühten, er gab unserem Zerren und Ziehen keinen Millimeter nach.
„Elender Mist,“ fluchte ich unter meiner Maske, aber es half nichts, wir mussten noch einmal zurück. Ich schubbelte mit meinen Stiefeln an dem glatten Schlauch entlang, eine Hand an der Kellerwand, die andere wie ein Schlafwandler geradeaus gestreckt. Das ging verhältnismäßig flott, hatte sich doch bis hierher kein weiteres Hindernis in den Weg gestellt. Ah, das war die Kreuzungsstelle der beiden Kellergänge. Ich verlor den Kontakt zur Wand, denn der Schlauch bildete hier einen großen Bogen. Ich musste auf die Knie runter und konnte mich nur noch am Schlauch voran tasten. Jochen folgte allen Bewegungen und klebte jetzt wie ein Kaugummi an meinen Stiefeln. Was war das? Der Schlauch verschwand unter einer festen Barriere. Es schien eine Kellertür zu sein. Ich ergründete die Sache genauer, führte den Scheinwerferkegel bis unmittelbar vor einen Lattenrost, denn den hatten wir hier vor uns. Er versperrte den Eingang zu einem wahrscheinlich dahinter liegenden Kellerraum. Da die Latten nicht bis tief auf den Boden reichten, hatte sich der Schlauch in einem großen Bogen darunter geschoben. Jetzt klemmte er zwischen denselben wie eine Nudel zwischen den Zinken einer Gabel. Ich richtete mich auf. Ein kräftiger Tritt von oben – er war frei.
„Angriffstrupp für Zugführer – Kommen!“
„Ich höre – Kommen!“
„Was ist los? Habt Ihr das Feuer?“
„Nein, noch nicht! Hatten Probleme!“
„Braucht Ihr Hilfe? Wie ist Dein Luftvorrat? – Kommen!“ Ich fasste Jochen am Ärmel. Man musste schon recht laut werden, um sich miteinander zu verständigen. Ich näherte mich daher seinem Ohr und schrie:
„Lass mal Deine Luft sehen!“ Er blieb stehen, so dass ich mich wie ein extrem Kurzsichtiger über die Zeiger seines Druckmessers beugte. Um überhaupt etwas erkennen zu können, führte ich den Strahl der Lampe ganz dicht heran. Anscheinend ging es denen da draußen nicht schnell genug, schon wieder nervte das Funkgerät.
„Angriffstrupp für Zugführer – Kommen!“
„Ja doch, ich höre!“
„Was ist los, warum meldet Ihr Euch nicht?“
„Alles klar bei uns! Druck reicht noch! Wir erkunden weiter – Ende!“ Ich hatte wohl etwas schroff geklungen, denn prompt kam es zurück:
„Eh, Rambo, immer schön locker bleiben. Wir sind alle bei Dir – Ende!“ Es gab keine Zeit für weitere Scherze oder lockere Sprüche. Den Verhältnissen entsprechend erreichten wir „schnell“ unser abgelegtes Strahlrohr. Die Temperatur war hier unten deutlich höher als draußen. Das war völlig normal, da der Brandrauch viel von der Wärme des Brandes mit sich führte. Dennoch spürten wir nicht jene extremen Temperaturen, die in seiner unmittelbaren Nähe abgestrahlt werden und uns Feuerwehrmänner oft bis tief auf den Boden zwingen. Das bedeutete aber nicht, dass wir hier sicher waren. Zu viele unbekannte Risiken lauerten hinter jeder Tür, hinter jedem Mauervorsprung.
Brandtemperaturen in einem Keller können je nach Brandpotential sehr schnell 800° C und auch mehr erreichen. Führt man sich einmal vor Augen, was in diversen Kellerräumen lagert, ist das nicht verwunderlich: Wunderschöne Errungenschaften unserer chemischen Industrien wie Lacke, Farben, Sprays, Verdünner, Pinselreiniger, Fässer mit Heizöl, Kanister mit Sprit, Unmengen von sinnlosem Gerümpel, dazu ganze Hobbywerkstätten voller Holz, Leim und sogar Gasflaschen. Denken Sie nur einmal an Ihren eigenen Keller oder an den von Freunden und Bekannten und stellen Sie sich die unangenehme Frage: Was wäre wenn…?
Ich fühlte die fünfte Tür. Das Türblatt ließ keine erhöhte Temperatur spüren. Ich zog daher einen Handschuh aus und glitt noch einmal mit der ungeschützten Hand über das Holz. Nichts. Ein simples Vorhängeschloss sicherte den Keller vor unbefugtem Zutritt. Nur ein schwaches „Knack“, dann brach der Bügel unter der Hebelwirkung meines Feuerwehrbeils auf. Der dahinter liegende Raum war genauso finster wie der Gang, in dem wir eben noch standen. Nichts deutete auf ein Feuer hin. Keine Temperaturerhöhung, keine Brandgeräusche, kein Feuerschein. Hier waren wir offensichtlich am falschen Ort.
„Zugführer für Angriffstrupp – Kommen!“
„Ich höre – Kommen!“
„Wir sind hier im fünften Kellerraum. Da ist nichts. Wir gehen weiter – Kommen!“
„Das muss aber da sein, versuch es mal im nächsten Raum! – Kommen!“
„Okay, ich melde mich – Ende!“ Die nächste Tür folgte nach etwa 5 m. Ich spürte die Wärme schon durch den Lederhandschuh.
„Ich glaube, das ist es!“ schrie ich Jochen ins Ohr, „Das Türblatt kocht!“